Penumbra/„Zwischen 1-500“
Text von Jenny Mues
Das „500th Day CameraObscuraProject“ ist ein zwischen 2016 und 2017 durchgeführtes Fotoprojekt von Hans Haas, Wolfgang Kraus und Jochen Mariel (Abb. 1-3).
Von einem Schornstein in Dießen am Ammersee aus sind in einem Zeitraum von 500 Tagen fünf Langzeitbelichtungen von Himmel und Dachlandschaft entstanden. Hierfür wurden fünf in einer Linie aufgereihte Lochkameras verwendet, die ausgerichtet von Ost nach West, sich überschneidend zusammen einen Blickwinkel von ca. 200° einfangen. Am 21.06.2016, um 11.25 Uhr, wurden die jeweils innen mit lichtempfindlichen Fotopapier versehenen, Stecknadel großen Löcher der Kameras geöffnet und am 2.11. 2017, am 500. Tag, geschlossen.
In diesem Fotoprojekt verbinden sich zwei „Techniken“: das von Jochen Mariel seit den späten 1970er Jahren in Aktionen, Sammlungen, Pflanzungen, Berechnungen, Zählungen durchgeführte Prinzip „zwischen 1-500“[1] und die Fotografie mit der Lochkamera.
Wolfgang Kraus beschäftigt sich seit langem mit Fotografie und hat die Technik der Lochkamera bereits für etliche Aufnahmen von Landschaften und bekannten Architekturen verwendet. Hierbei partizipiert er an „The-7th-Day“, einer bildkommunikativen Online-Plattform, welche der Künstler Przemek Zajfert in Erinnerung an Nicéphore Niépce (1765-1833), den Erfinder der Fotografie mit Lochkamera, vor einigen Jahren ins Leben gerufen hat (Abb. 4). 1816 stellte Niépce mittels einer Camera Obscura durch mehrtägige Belichtung eines mit Silbernitrat beschichteten Papiers eine Lichtaufnahme des Blicks aus seinem Fenster, die jedoch nicht fixiert werden konnte, her. Mit diesem schriftlich überlieferten Experiment wurde das schon in der Antike beobachtete Phänomen der Strahlenoptik in eine neue, unser heutiges Sehen maßgeblich bestimmende Bildform überführt: die Fotografie. Zajfert erachtet dieses im Mai 1816 von Niépce durchgeführte Experiment als historischen Ursprung der Fotografie. Auch das „500th Day CameraObscuraProject“ tritt an den Ursprung und gleichzeitig hinter die Fotografie zurück.
Das Projekt ist Teil von Zajferts mikroindustriellem Laborarium: von der Bereitstellung der nummerierten Lochkamera-Sets (hier: Nr. 8980-89848) bis zur Übertragung und Webarchivierung von aus aller Welt gewonnen Belichtungen hat Zajfert eine Plattform innerhalb der Welt der Neuen Medien geschaffen, die Bild generierend und Bild kritisch gleichermaßen wirkt. Im Kontext der „schlimmen“ und „guten“ oder auch der „fotorealistischen“ Bilder, die für uns heute ein unendliches Reservoir an potentiellen Wirklichkeiten bereithalten, zielt der Umgang mit dieser historischen Technik auf den Moment, an dem das Foto gerade erst sichtbar geworden ist und schon auch wieder verschwunden ist.
Die vorliegenden Aufnahmen stellen unser vom fotografischen Blick geschultes Sehen in Frage (Abb. 2). Nach Ablauf der 500 Tage wurden die fünf schwarz-weissen Negativbilder aus den Kameras genommen und mittels Scanner in digitale Daten übertragen, wobei die Negative durch die Lichteinwirkung zerstört wurden. Als Ergebnis liegen fünf mittels digitaler Bearbeitung ins Positiv gekehrte und in Farbe übertragene Bilddateien vor, die in ihrer Bearbeitung die 500 Tage lang aufgenommene Dachlandschaft im Sonnenauf- und Untergang sichtbarer und nachvollziehbarer machen. Auf den „fotoähnlichen“ Bildern suchen wir uns zu orientieren. Hauptakteur ist die Sonne, deren Verlauf/äufe sich in das lichtempfindliche Papier eingeschrieben hat/ben und Hans Haas an die Idee einer „Sonnenharke“ erinnert/n. Die Konturen einzelner Architekturen scheinen aus der diffusen Fleckigkeit der dörflichen Dachlandschaft hervorzutreten. Das Auge verliert sich im Nachvollziehen von Lichtreaktionsprozessen ,im körnigen Nitrat, die sich auf dem Papier niedergeschlagen haben (Abb. 2, Nr. 8980). Wolfgang Kraus hat die Positionierung der Kameras an Hand von Plänen und Momentaufnahmen der Blickwinkel vor Beginn der Belichtungen dokumentiert. Im Vergleich der Bilder tritt ein erstaunliches Detail zu Tage. So erscheint in Ansicht Ost im Lochkamerabild eine Dachgaube, die innerhalb der 500 Tage gebaut wurde. Dieses banale Detail stößt den Betrachter auf die Differenz der Fotografie als Zeitdokument und als Experiment. Das Foto als Zeitdokument zielt auf die Mitteilung einer Information, deren Verständnis abhängig von dem Wissen um den Kontext ist, ein ansonsten „stilles“ Bild. Das Lochkamerabild ist unbestimmtes Sediment. Die Technik der Lochkamera führt uns zum „Experiment“ Fotografie, zurück: unter Ausnutzung der Strahlenoptik sind die Wahl von Standort und Zeitraum die einzigen Mittel zur Schaffung dieser Lichtzeichnungen. Könnte hier der Einsatz der Lochkamera als Guerilla-Samenbombe durch unendlich lange Belichtungszeit und einem zufällig gewählten Standort unserem Streben nach Wahrnehmung, einem Parallel zur Natur, nach dem absoluten Bild dienen?
In Verbindung mit Mariels Prinzip „zwischen 1-500“ sind die „unbestimmten Sedimente“ in eine Ordnung überführt. Es setzt die bestimmenden Rahmenbedingungen des Fotoprojekts: durch die Belichtungszeit von 500 Tagen und die Installation von fünf Lochkameras am gleichen Standort, im gleichen Zeitraum. Es übernimmt somit die Auslöser-Funktion der Kamera und es schafft eine Reihung, durch welche die fünf Bilder à priori in Bezug stehen, egal was sich darauf abbildet. Dies kann unserer nach Erkenntnis und Wahrheit verlangenden Optik erneut einen Knick verleihen, indem das Bild als potentielles Abbild von vorneherein negiert wird. Denn Jochen Mariels Strategie vermittelt uns, dass wir hier nichts sehen können, außer eben dem, was abgebildet ist. Das Lochkamerabild wird als Befund erachtet. So hakt Mariel im Gespräch über das Fotoprojekt bei der von Zajfert vorgenommenen digitalen Übersetzung der schwarz-weiss Werte in Farbwerte ein, indem er eine Unterteilung in 500 Grauzonen skizziert, die Ihre Entsprechung in 500 Farbzonen finden könnte.
Das „Zwischen 1-500“- Prinzip von Jochen Mariel ist hier eine exakte Anzahl, ein exakter Zeitraum, jedoch willkürlich gesetzt. Die 500 stellt gleichzeitig eine Größe an der Grenze der Wahrnehmbarkeit dar. An diesen Widersprüchen setzt Mariel in seinen Arbeiten gedanklich und gestalterisch an, bescheiden und ironisch zugleich: So z. B. in der Aktion „1-500 eine gerade Linie. ( Abb. 5): Die Handlungsanweisung lautet: „Mit einem Stock versuche ich eine 500 m lange Linie zu ziehen …. Die rote Linie wird mit einem Seil gezogen, das Seil ist alle Meter markiert. Nach alle Meter wird festgestellt, wie die gezogene Linie abweicht …. Bei der Aktion ist nur das Ziel sichtbar.“[2]
Die 500 steht für das nicht mehr Wahrnehmbare, das Unbestimmte; es markiert gleichzeitig die Grenze des Unbestimmten, so wie das Lochkamerabild das gerade erst Sichtbare und schon wieder Verschwundene zu markieren vermag.
In seiner sprachphilosophischen Betrachtung über die Vagheit/Unbestimmtheit stellte Betrand Russell 1923 heraus, dass diese selbst nicht bestimmbar ist, auch wenn sie begrifflich begrenzt wird. Interessanterweise verwendet er genau hierfür ein kategorisch betrachtet ungenaues Wort, eines mit metaphorischer Bedeutung: Penumbra
„The fact is that all words are attributable without doubt over a certain area, but become questionable within a penumbra, outside which they are again certainly not attributable. Someone might seek to obtain precision in the use of words by saying that no word is to be applied in the penumbra, but unfortunately the penumbra is itself not accurately definable, and all the vaguenesses which apply to the primary use of words apply also when we try to fix a limit to their indubitable applicability. This has a reason in our physiological constitution.“[3]
Je nach Anwendung bezeichnet Penumbra z. B. in der Medizin ein Diagnose, die den nur teilweise geschädigten Bereich um die zentrale Nekrozone, also die Grauzone eines Hirninfarkts dynamisch beobachtet, in der Astronomie bezeichnet Penumbra zum Einen den etwas wärmeren, den Randbereich um den Kern, den Umbra, von Sonnenfleckens, zum anderen der Halbschattenbereich um die Finsternis, welche für einen kurzen Zeitraum durch die Stellung eines Planeten zwischen Sonne und Erde hervorgerufen werden kann.
Penumbra ist eine vulgärlateinische Zusammensetzung aus „paene“ fast, beinahe und „umbra“ der Schatten. Der scheinbar so ungenaue Begriff Penumbra deutet in den verschiedensten Kontexten ziemlich genau auf den Zeitaspekt, den Verlauf, die Dynamik unseres Daseins.
[1] In besonders vielschichtiger Weise zeigte Mariel seine Auseinandersetzung mit diesem Prinzip 1978 in Form von Pflanzungen, Installationen, Aktionen und Sammlungen in der Doppelausstellung: „Weizenfeld 1-500“ im Kunstforum und in der Galerie Tanit, s. H. Jochen Mariel, Projekt Weizenfeld 1 – 500, 1. Eine Dokumentation von C.M. Molitor; 2. Analyse der Zahlen 1 – 500, München,1978
[2] Jochen Mariel, Werkkatalog, o. S.
[3] Auszug aus Betrand Russell, „Vagueness“, 1923: „Tatsächlich sind alle Wörter zweifellos einem bestimmten Gebiet zurechenbar, werden aber innerhalb einer Penumbra fragwürdig, und sind wiederum außerhalb der Penumbra nicht zurechenbar. Man könnte versuchen, im Umgang mit Wörtern Genauigkeit zu erreichen, indem man sagt, dass kein Wort in der Penumbra angewendet werden kann; aber leider ist die Penumbra selbst nicht genau bestimmbar und all die Vagheiten welche zur ursprünglichen Verwendung der Wörter treffen auch zu, wenn wir eine Grenze zu ihrer unzweifelhaften Anwendbarkeit setzen. Dies ist in unserer physiologischen Verfassung begründet.“ (Übersetzung des Autors)