Die Camera Obscura ist eine der ältesten optischen Erfindungen der Menschheitsgeschichte. Schon in der Renaissance faszinierte sie Denker wie Leonardo da Vinci, und im 19. Jahrhundert wurde sie durch Joseph Nicéphore Niépce zur Grundlage der ersten Fotografie. Doch was ist aus dieser scheinbar einfachen „dunklen Kammer“ geworden? Spielt sie heute noch eine Rolle – in einer Zeit, in der Smartphones Millionen von Bildern in Sekunden festhalten? Die Antwort lautet: ja, mehr denn je.
Camera Obscura in der zeitgenössischen Kunst
In der Kunst erlebt die Camera Obscura seit Jahren eine Renaissance. Künstlerinnen und Künstler schätzen die Langsamkeit und die Zufälligkeit der Aufnahmen. Mit einer über Wochen oder Monate belichteten Lochkamera entstehen Solargraphien, die den Lauf der Sonne sichtbar machen. Statt klarer Momentaufnahmen entstehen Bilder, die das Verstreichen von Zeit einfangen und eine besondere ästhetische Tiefe besitzen.
Ein Beispiel dafür ist unser Projekt The 7th Day, bei dem Menschen weltweit einfache Lochkameras aufstellen; die zurückgeschickten Ergebnisse werden Teil eines wachsenden Archivs. So wird die Camera Obscura zu einem Medium, das über Grenzen hinweg verbindet und Zeit als künstlerische Erfahrung sichtbar macht.
Camera Obscura in der Bildung
Auch in Schulen und Workshops spielt die Camera Obscura eine wichtige Rolle. Kinder können mit einfachen Materialien eine Lochkamera bauen und dabei spielerisch erfahren, wie Licht funktioniert und wie Bilder entstehen. Für viele ist es die erste Begegnung mit der analogen Fotografie – sie weckt Neugier, Kreativität und ein Verständnis für Naturwissenschaft und Kunst.
Millennium Camera – Fotografie für die nächsten 1.000 Jahre
Ein besonders radikales Beispiel für Camera-Obscura-Denken ist die Millennium Camera des Künstlers und „experimental philosopher“ Jonathon Keats. Die Idee: Eine extrem langlebige Lochkamera belichtet ein einziges Bild über etwa tausend Jahre und macht so Landschaftsveränderungen in einer einzigen Aufnahme sichtbar.
- Bereits 2015 installierte das ASU Art Museum in Tempe (Arizona) eine Millennium Camera, die – wenn alles klappt – im Jahr 3015 präsentiert wird. Sie blickt auf die Tempe-Skyline und soll ein Jahrtausend Stadtentwicklung in einer Fotografie bündeln. (news.asu.edu, Atlas Obscura, PetaPixel)
- 2024 kam eine weitere Millennium Camera in Tucson (Tumamoc Hill) hinzu, entwickelt an der University of Arizona. Durch ein pinzförmiges Loch in 24-Karat-Gold fällt Licht in einen Kupferzylinder; über Jahrhunderte verblassen übereinanderliegende Rosamarin-Ölschichten (Rose Madder) zu einem Bild. Geöffnet werden soll sie erst in rund 1.000 Jahren. (University of Arizona News, New Atlas, Smithsonian Magazine)
- Internationale Berichte (u. a. Hyperallergic) ordnen das Projekt als „die langsamste Fotografie der Welt“ ein und betonen seine Funktion als Einladung, über Verantwortung gegenüber künftigen Generationen nachzudenken. (Hyperallergic, aau.edu)
Kunstprojekt „Camera Obscura 2005/1–∞“
Ein eindrucksvolles Net-Art-Projekt ist Camera Obscura 2005/1–∞, 2005 von Przemek Zajfert und Burkhard Walter initiiert und dem Künstler Roman Opałka gewidmet. Herzstück ist eine Doppel-Lochkamera: Jede Woche wurden auf eBay die beiden „Löcher“ versteigert; die Höchstbietenden erhielten nacheinander dieselbe Kamera mit 5×7-Zoll-Film, stanzen ihr Loch mit einer Nadel, belichteten und schickten die Kamera weiter. Weil die beiden Öffnungen nur Millimeter auseinanderliegen, überlagern sich die zwei Aufnahmen – es entsteht ein gemeinsames Bild von Personen an unterschiedlichen Orten, ein weltweites Puzzle paralleler Belichtungen. Die Serie wird online dokumentiert und sollte auch physisch präsentiert werden. Projektseite: http://www.camera-obscura-1-inf.net.
Diese Arbeiten zeigen eindrucksvoll, wie aktuell das Prinzip der Camera Obscura ist: Als künstlerischer, wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Resonanzraum.
Camera Obscura als Inspiration für Fotoprojekte
Die Camera Obscura zeigt, dass Fotografie mehr ist als Technik. Sie lädt dazu ein, mit Zeit, Licht und Wahrnehmungzu experimentieren. Ob in der freien Kunst, in der Fotografiegeschichte oder als kreatives Lernprojekt – sie bleibt ein Werkzeug, das uns daran erinnert, wie faszinierend es ist, die Welt durch ein kleines Loch neu zu entdecken.
Mehr zur historischen Bedeutung: Camera Obscura – Die Anfänge der Fotografie (Hintergrund zur Frühgeschichte und Funktionsweise).
Zur Langzeitbelichtung allgemein: Dokumentierte Rekorde extrem langer Belichtungen auf Fotopapier verdeutlichen, dass Zeit selbst Bildträger sein kann. (National Geographic, My Modern Met)
Die Camera Obscura heute ist ein Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Sie ist kein überholtes Relikt, sondern eine Quelle der Inspiration – für Künstlerinnen und Künstler, für den Unterricht und für alle, die Fotografie neu erleben möchten. Ihre Einfachheit macht sie zugänglich, ihre Ergebnisse überraschen immer wieder. Projekte wie die Millennium Camera zeigen, wie weit sich das Prinzip in die Zukunft denken lässt. (Hyperallergic)